Muse des Schachs: Caissa

Humanisten und Kreuzworträtsellöser kennen die klassischen neun Musen samt ihren Attributen mit Vor- und Zunamen, jene Töchter des Zeus, liebliche Gehilfinnen der olympischen Götter, denen seit Olims Zeiten die Verbreitung und Pflege der schönen Künste, aber auch der Wissenschaften obliegt. Ihr Einfluss reicht weit über die Alpen hinaus bis ins Weimarer Kulturzentrum, wo sie - wie Goethen bezeugte - das edle Menschenpaar Hermann & Dorothea huldvoll beglückten. Doch was, beim Zeus, hat Caissa in dieser erlauchten Gesellschaft verloren?

 

In grauer Vorzeit geriet einst der Kriegsgott Mars in die Gefangenschaft der bezaubernden Waldnymphe Caissa. Wie konnte das geschehen? Aus Sicht der Nymphe kein Problem: beruht doch die weibliche Logik auf dem Glauben, dass bei Gott kein Ding unmöglich ist. Auch ist zu bedenken, dass vor der Verankerung des Patriarchates in den 5 Büchern Mosis das Matriarchat die vorherrschende Lebensform auf Erden war, wie nicht zuletzt das sagenhafte Volk der kämpferischen Amazonen bezeugt. Wie auch immer: Mars verliebte sich unsterblich in Caissa, wurde aber nicht erhört. Was tun?

 

Nun zählt wohl Mitleid zu den liebenswerten Tugenden des Weibes, und eine Nymphe riet dem Mars, doch ein aufregend lustvolles Spiel zu erfinden, um es der Angebeteten zu schenken und so ihre Gunst zu gewinnen. Nach weit verbreiteter  Auffassung  ist zwar der Krieg der Vater  aller Dinge,  doch  der Kriegsgott selbst schwang lieber  Lanze und Schwert, als angestrengt nachzudenken. Der listenreiche Odysseus war noch nicht geboren, und so wandte sich Mars hoffnungsvoll an den begabten Ägypter Aiphron, der seine Chance nutzte und in einer Sternstunde das Schachspiel mit all seinen Schikanen erfand. Caissas Feindschaft wandelte sich in Freundschaft, und die Götter spielten bald darauf ihre erste Schach - Olympiade.

 

In den Rang einer Muse wurde die Waldnymphe allerdings erst  Mitte des 19. Jahrhunderts erhoben, nach einer kleinen Vorgeschichte. 1763 schrieb der englische Rechtsgelehrte und Orientalist William Jones ein romantisches Werk “Caïssa, ein Poem über das Schach”, das obige unglaubliche Geschichte zum Inhalt hat. Als dann der französische Sammler von Schach - Kuriositäten, Fréderic Alliey, um 1850 das Werk übersetzte und in einer Auflage von  100  Exemplaren für seine Freunde im Pariser “Café de la Régence“ herausgab, fand Caissa über England hinaus Beachtung und verfolgt seitdem auch unsere schachlichen Aktivitäten, bestärkt unseren Mut zum Angriff, ermahnt uns zur Vorsicht und erzieht uns zur Fairness.

 

Wie alle weiblichen Wesen küssen Musen leidenschftlich gern und der Kuss der Muse ist geradezu sprichwörtlich geworden. Seit dem Gewinn des Dähne - Pokals durch unseren Schachfreund Dr. Segna hat Caissa auch die SF Konz - Karthaus in ihr Herz geschlossen. Im Vertrauen raunte sie mir zu, es gäbe einige junge Mitglieder im Verein, die ihres Kusses wohl würdig seien, und zur rechten Zeit werde sie ihren Einfluss geltend machen. Sie scheue auch nicht davor zurück, weibliche Wesen zu küssen, zumal solche Huldigungen schon seit Homer - vornehmlich auf der Insel Lesbos - nicht ungewöhnlich seien und überdies ja im Verborgenen geschähen.

 

Ihr jugendlichen Schachfreunde, achtet also auf alle Anzeichen eines “musischen” Anstoßes! Doch bleibt dabei  nicht zu passiv; hört auf eure Trainer, spielt eifrig Turniere: denn nur wer strebend sich bemüht, ist für den  Kuss der Muse empfänglich.

 

H. Giering

 

Literatur: Rolf Voland, Schachkaleidoskop.